Alle Geretten in Sicherheit, ein langer Bericht aus der Nachtschicht

Hallihallo,

Wir haben es geschafft!
Die letzten Gäste sind eben von Bord gegangen und alle 133 Geretteten sind nun sicher auf europäischem Boden 😍
Endlich!
Als Crew bleiben wir jetzt wohl wahrscheinlich noch 2 Wochen zusammen auf der ALAN KURDI.
Gestern haben wir zwar einen Corona-Test gemacht aber auch wenn der negativ ausfällt wollen die Italiener uns in Quarantäne schicken.
Wir haben jetzt also erstmal Zeit zum Durchatmen und Nachbereiten.

Ich melde mich aus meiner Nachtschicht von 4 – 8. Jetzt wo wir im Hafen liegen, brauchen wir durchgehend eine Gangway-Wache. Der Gangway ist die Zugangstreppe zum Schiff. Wir müssen natürlich sicherstellen, dass niemand aufs Schiff kommt, der oder die das nicht soll. In unserem Fall sehr einfach, denn niemand darf aufs Schiff. Außerdem kontrollieren wir regelmäßig, ob die Leinen noch richtig sind und ob sich der Wind gedreht hat.

Die 2 Stunden Schlaf, die ich gestern Nachmittag hatte, waren wohl die am dringendsten benötigten in meinem Leben. Auch wenn ich am liebsten durchgepennt hätte, war ich danach wieder voller Energie. Abends haben wir noch zusammengesessen und uns über den erfolgreichen Abschluss unserer Mission gefreut (auch wenn es ja doch noch irgendwie weitergeht). Danach haben einige noch einen Film geschaut und ich hab mich dazugesetzt und einen Bericht für die Homepage geschrieben (schicke ich euch die Tage).


 

Ich kann von meinem Platz hier das Gebäude sehen, in dem unsere Gäste untergebracht sind. Ich hoffe es geht ihnen gut und es wird sich gut um sie gekümmert. Ich würde gerne gerade Kontakt zu ihnen aufnehmen, aber sie scheinen kein Internet zu haben bisher.

Bevor ich zu euren Fragen komme, möchte ich euch noch kurz eine Geschichte erzählen: Am 2. September, einen Tag bevor ich zur ALAN KURDI aufgebrochen bin, haben wir von Sea-Eye deutschlandweit Mahnwache zum Gedenken an Alan, Ghalib und Rehanna Kurdi gehalten. Ihr kennt mit Sicherheit die Geschichte von Alan, sein Bild ging um die Welt. Mit ihm ertranken am 2. September 2015 sein Bruder und seine Mutter. Unser Schiff ist nach ihm benannt und das nächste Schiff wird nach seinem Bruder GHALIB KURDI heißen.

Bei der Mahnwache in Bonn traf ich Ralf Knoblauch, einen Künstler und Diakon aus Bonn, der mir für die ALAN KURDI diese schöne Holz-Skulptur mitgab (siehe Foto). Die Krone auf dem Kopf dieser Skulptur soll zeigen, dass jeder Mensch ein König oder eine Königin ist – egal wo er oder sie herkommt und wie er oder sie aussieht. „Die Würde des Menschen ist universell und gilt für uns alle“, sagt Ralf. Diese Skulpturen erinnern auf der ganzen Welt an vielen Orten daran. Nun haben wir sie auch auf der ALAN KURDI und ich bin Ralf sehr dankbar dafür.


 

Nun hab ich Zeit, auf eure Fragen aus den letzten Tagen zu antworten:

Besteht bei dem Alarmphone nicht die Gefahr, dass der Notruf von der Küstenwache abgefangen wird und diese dann kommen?

Das Alarmphone ist eine Initiative, die 2014 gegründet wurde. Freiwillige aus Nordafrika und Europa betreuen rund um die Uhr eine Hotline, bei der sich Boote, die in Seenot geraten, melden können, damit ihr Notruf weitergeleitet wird, da Boote mit Flüchtenden in der Regel keinen Funk haben. Das Alarmphone bietet also „eine zweite Möglichkeit, dass ihr SOS wahrgenommen wird.“ Wenn sie zumindest ein Satellitentelefon dabei haben, können sie einen Notruf an das Alarmphone machen. Das Alarmphone leitet diese Infos dann an die zuständigen Behörden (in der libyschen SAR-Zone Libyen, Malta und Italien) weiter, damit die Menschen hoffentlich vor dem Ertrinken gerettet werden können. Außerdem gehen die Mails an Schiffe, die in der Nähe sind und Hilfe leisten können. Leider reagieren in der Regel nur NGOs und die „Libysche Küstenwache“ darauf. Und das bedeutet dann leider wirklich häufig, dass die Menschen abgefangen und zurück nach Libyen gebracht werden.
A
llerdings versucht das Alarmphone Druck auf die zuständigen europäischen Verantwortlichen auszuüben, um Pushbacks durch die Milizen und andere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Außerdem leistet das Alarmphone Aufklärungsarbeit über die riskante Überfahrt über das Mittelmeer.

https://alarmphone.org/de/

Für uns bedeutet ein Notruf durch das Alarmphone, dass ab dem Notruf jede Minute zählt, damit wir eher da sind als die Milizen.
B
ei unseren Rettungen auf dieser Mission war es so, dass die ersten beiden Boote, die wir gerettet haben, kein Satellitentelefon dabei hatten und so keine Hilfe rufen konnten. Wir sind daher sehr froh, dass wir sie so haben entdecken können. Das dritte Boot hat das Alarmphone benachrichtigt und so konnten wir ihre zuletzt übermittelte Position ansteuern und sie in Sicherheit bringen.

Wir haben uns gefragt, wie lange eure Gäste vorher auf dem Schlauch- bzw. Holzboot unterwegs waren.

Die Geretteten sind in der Nacht vor der Rettung gestartet. Sie waren also so 10 – 14 Stunden auf dem Wasser, bevor wir sie retten konnten. In das Holzboot lief wohl schon seit längerer Zeit Wasser und die Menschen versuchten verzweifelt das Wasser wieder rauszuschütten.

Wenn die Menschen an Land gehen, was sind dann eure nächsten Schritte? Habt ihr noch Kontakt mit den Geretteten oder macht ihr euch bereit, um erneut loszufahren?

Die Menschen wurden nun von den italienischen Behörden übernommen und diese kümmern sich um sie. In der Regel sind vor Ort auch noch eine oder mehrere NGOs beteiligt, wie das hier ist weiß ich aber nicht.
Im Normalfall würde sich die ALAN KURDI nun für den nächsten Einsatz bereitmachen. Wir würden also das Schiff in der nächsten Wochen wieder startklar machen und nächsten Freitag käm
e die nächste Crew zur Übergabe, um dann direkt wieder in den Einsatz zu fahren. Leider hindert uns Italien im Moment erfolgreich daran. Selbst wenn wir alle negativ getestet werden, müssen wir für 14 Tage in Quarantäne auf unserem Schiff statt an Land. So werden wir schon mal 2 Wochen länger vom Retten abgehalten. Und dann bleibt abzuwarten, ob die Italiener uns wie im Mai wieder festsetzen. Im Moment wird eigentlich jedes Schiff, das zivile Seenotrettung betreibt, aus fadenscheinigen Gründen festgehalten.

Ich hätte echt großes Interesse, auch Mal auf eines der Schiffe mitzuhelfen, deswegen wollte ich dich fragen, wie du da dran gekommen bist?

Unter https://sea-eye.org/mitmachen/seecrew/ kann sich jede*r für die Missionen von Sea-Eye bewerben (genauso geht das bei den anderen NGOs). Bei uns ist es so und ich nehme an bei den anderen auch, dass sich auf einige Positionen viele bewerben. Aber eine Person muss pro Mission ja genommen werden und das kannst genauso auch du sein. Außerdem sind die Missionen durch Corona im Moment 5 – 6 statt 3 – 4 Wochen lang, sodass auch immer wieder Menschen abspringen. Bewerben kostet also nichts, wenn wir bald die GHALIB KURDI haben, gibt es da auch einige Möglichkeiten.
Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn einige von euch mal bei Sea-Eye mitfahren
Bei mir persönlich hat es definitiv geholfen, dass ich seit Mai für Sea-Eye arbeite und das ehrenamtliche Engagement koordiniere. Dafür ist es einfach sehr sinnvoll, dass ich die Erfahrungen auf dem Schiff gemacht habe.

Vielleicht ist es zu spät für meine Frage, aber wie viele Sprachen sprechen denn Eure Gäste? Du hast die großen Umgangssprachen erwähnt, aber es gibt so viele mehr! Oft können die Menschen 6, 7 oder mehr Sprachen... ??

Eine sehr gute Frage. Ich habe nur die 3 Umgangssprachen erwähnt, weil wir über diese kommuniziert haben und weil ich leider auch nicht weiß wie viele Fragen wir an Bord sprechen konnten. Bei 22 verschiedenen Nationen mit Sicherheit eine große Menge, aber das war leider nicht in Erfahrung zu bringen. Ich habe aber auf jeden Fall einige Sprachen gehört, die mir vollkommen unbekannt waren und unsere Gäste haben zum Beispiel auch auf verschiedenen Sprachen gesungen.

Was singt ihr denn dann so?

Begonnen hat das Gesinge am zweiten Tag, als Jonas und ich eine kurze Pause beim Meeting mit den Gästen überbrücken mussten und ich einfach angefangen einen Antwortgesang aus Ferienfreizeiten zu singen. Einige von euch kennen mit Sicherheit das Lied „Ne Fahrradklingel, ein Ruderboot…“. Auch wenn unsere Gäste nicht verstanden was sie sangen, haben sie viel Spaß daran gehabt und das Lied in den letzten Tagen auch häufig selbst gesungen. Schon witzig, dass sie außer den Standard-Wörtern wie „Danke“ und „Guten Tag“ nun vor allem die Wörter „Fahrradklingel“ und „Ruderboot“ kennen.
Danach haben wir verschiedenste Lieder gesungen. Unsere Gäste haben uns einiges von ihrer Musik gezeigt und vorgesungen und wir haben auch noch ein paar deutsche und englische Lieder mit Gitarre gesungen.
Ein Lied, das wir ziemlich alle kannten war z.B. „
Zangalewa“ von Golden Sounds, einer kamerunischen Band, die dieses Lied schon 1986 veröffentlichten. Ihr könnt es vermutlich besser als „Waka Waka“ von Shakira,

Für wie viele Tage hättet ihr eigentlich Verpflegung und Wasser für eine solch große Gruppe an Board gehabt? Und wie ist eigentlich die sanitäre Situation an Board?

Durch unsere Wasseraufbereitungsanlage hatten wir für unbegrenzte Zeit eine bestimmte Menge an Wasser an Bord. Verdurstet wäre uns also niemand und unsere Gäste konnten so viel Wasser trinken wie sie wollten.
Was die Verpflegung angeht, kann man das nicht ganz genau sagen. Eine Woche hätten wir aber mindestens noch alle verpflegen können. Danach wäre es dann irgendwann knapp geworden.

Die sanitäre Situation an Bord ist notdürftig. Unsere Gäste hatten zwei Toiletten zur Verfügung, in denen wie auf vielen Schiffen üblich auch jeweils eine Dusche eingebaut ist.

Hast du vielleicht Gelegenheit mit den Menschen vor Ort etwas ins Gespräch zu kommen? Es wäre ja vielleicht interessant zu hören, wie sie die Situation wahrnehmen und was sie für Erfahrungen gemacht haben. kann es nicht zum Beispiel sein, dass sich der Unmut gar nicht primär auf die Geflüchteten richtet, sondern auf die anderen EU-Länder die sie dann mit den geflüchteten und ihren Problemen allein lassen?
Es gibt ein zu recht berühmtes YouTube Video mit dem Titel „The danger of a single story“.…

Leider habe ich bisher nicht mit diesen Menschen sprechen können und durch unsere Quarantäne wird dies auch erstmal schwer. Ich bin mir aber sicher, dass sie wütend auf die anderen EU-Länder sind und sich im Stich gelassen fühlen und das auch absolut zurecht, denn das ist in den letzten Jahren eindeutig passiert. Insbesondere Deutschland aber natürlich auch der Rest der EU kam und kommt seiner Verantwortung Italien, Griechenland und andere beim Thema Geflüchtete und deren Versorgung und Umverteilung zu unterstützen, nicht nach.
Das rechtfertigt aber für mich in keinster Weise, dass man Menschen, die solche Dinge erleben mussten wie unsere Gäste, eineinhalb Tage bei Wind und Kälte warten lässt oder dass man faschistische Flaggen zeigt und dass man rechte Parolen brüllt, statt diese Menschen hier willkommen zu heißen.

Es gab auch einige abfällige Bemerkungen und Beschimpfungen gegen unsere Arbeit. Da pfeife ich drauf und es soll mir egal sein. Was mich aber wirklich getroffen hat und wofür es in meinen Augen keine Entschuldigung gibt, ist das Gefühl, das man schutzlosen Menschen gibt, hier nicht Willkommen zu sein.
Das Video kannte ich nicht, vielen Dank! Es gibt einige Gedanken, die ich gerade dazu im Kopf habe, aber ich lasse es einfach mal für sich sprechen.

https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story?language=de

Habt ihr Nummern von denen bekommen? Damit man in Kontakt bleibt? Oder hatte niemand ein Handy?

Jonas und ich haben unseren Gästen unsere Facebook-Namen gegeben, so bleiben hoffentlich einige von ihnen mit uns in Kontakt. Ich bin würde mich freuen, einige vllt sogar wiederzusehen. Da sind schon auch Freundschaften entstanden.
Mohammed aus dem Jemen, der uns sehr viel mit den Übersetzungen auf Arabisch geholfen hat, möchte selber auch mal als Crewmitglied auf der ALAN KURDI mitfahren, ich würde mich sehr darüber freuen.
Viele unserer Gäste hatten Handys dabei und waren gestern sehr froh, als Eloy und Jonas einen Hotspot für sie eingerichtet haben und sie Kontakt zu ihren Familien aufnehmen wollten. Nicht wenige Angehörige haben gedacht, dass ihre Verwandten ertrunken seien.

Es gibt aber auch einige, denen ihr Handy in Libyen geraubt wurde oder die dieses verkauft haben, um Geld für die Überfahrt zu bekommen.

Sehr viele haben am Ende noch Fotos mit uns gemacht und ich bin schon gespannt, diese bei Facebook zugeschickt zu bekommen.

Ich habe nun alle Fragen beantwortet, die ich noch auf dem Schirm hatte. Mit Sicherheit sind mir in den letzten Wochen einige eurer Fragen entgangen. Bitte entschuldigt und schickt sie mir nochmal, falls sie noch unbeantwortet sind. Danke!

In den nächsten Tagen werde ich mich eher nicht mehr täglich melden, aber euch auf dem Laufenden halten und insbesondere auch sehr gerne Fragen beantworten.

Herzliche Grüße aus Olbia!

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