22. September: 3. Tag im Standoff

Heute Nacht haben wir alle sehr wenig geschlafen. In den frühen Morgenstunden wurde zwei Familien, ingesamt 8 Personen, von der ALAN KURDI evakuiert, da die Kinder medizinische Betreuung an Land brauchen.

Die Evakuierung wurde mitten in der Nacht durchgeführt, sodass wir um 4:30 Uhr all unsere Gäste wecken mussten, um unsere RHIBs zu Wasser zu lassen und die Menschen zu evakuieren. Als das Manöver beendet war, konnten wir direkt mit dem Frühstück beginnen.

Danach war es wichtig, die Evakuierungen und unseren weiteren Kurs zu erklären. Da unsere Gäste auf unser Vorder- und Achterdeck aufgeteilt sind, müssen Jonas und ich übrigens jedes Briefing immer doppelt halten.

Danach haben wir dann viel mit den Menschen gesprochen und mit einer Karte des Mittelmeers – unser wichtigstes „Werkzeug“ genau erklärt, wo wir sind und wo wir nun hinfahren. Wir sind gerade auf dem Weg Richtung Sizilien und sind durchgehend in Verhandlungen mit verschiedenen Akteuren.

Die Abläufe an Bord klappen gut und die Crew ist wirklich ein sehr eingespieltes Team – da bin ich wirklich sehr glücklich drüber. Ansonsten wäre es eine unmögliche Aufgabe, diesen Standoff mit so vielen Menschen (nun immer noch 125) über die Bühne zu bringen.

Vera hat zum Beispiel eben meine Schicht früher übernommen, so komme ich heute etwas früher ins Bett. Egal, wer Hilfe braucht, die Crew ist zur Stelle und auch unsere Gäste helfen viel mit beim Geschirr spülen etc.

Heute bin ich außerdem im Rahmen meiner Rolle als Human Rights Observer mit einigen Menschen ins Gespräch gekommen und habe mit ihnen über ihre Geschichte geredet, das ist echt belastend und erschreckend, was auch die jungen Menschen schon alles erleben mussten.

Auf unserer Homepage findet ihr schon mal einen ersten kurzen Bericht:

https://sea-eye.org/man-lebt-in-staendiger-angst/

Sobald ich dazu komme, werde ich euch mehr Geschichten erzählen, wenn die Gäste damit einverstanden sind (selbstverständlich ohne Namen). Aber die meisten möchten wirklich gerne über ihre Erlebnisse berichten.

Noch ganz kurz ein paar Antworten auf eure Fragen, die anderen haben ich nicht vergessen aber beantworte ich in den nächsten Tagen.

Was genau passiert mit den Booten der Flüchtenden nach der Rettung?

Wir zerstören die Boote nicht, aber markieren sie, damit ein anderes Schiff, das ein leeres Boot entdeckt, nicht denkt, dass die Menschen darin ertrunken sind.

Wenn wir Boote zerstören, sorgt das im Zweifel nur dafür, dass bei der nächsten Fahrt ein noch schlechteres Boot verwandt, das kam letztens noch in einer Studie raus – die Boote werden leider immer schlechter.

Das Holzboot, welches wir gerettet haben, wurde aber später von der „Libyschen Küstenwache“ verbrannt.

Was macht die „Libysche Küstenwache“, wenn sie bei euch ankommt?

Wie ich schon einmal berichtet habe, bedrohen sie uns gerne und versuchen unsere Rettungen zu behindern. Mehrmals schon haben sie während einer Rettung von Sea-Eye Schüsse in die Luft abgegeben.

Sie versuchen, die Menschen zurück nach Libyen zu bringen, da sie häufig Geld für diese bekommen können. Wenn das nicht klappt, versuchen sie zumindest die Boote zu bekommen.

Was für Motoren haben die Boote?

Das ist unterschiedlich, aber es sind in der Regel einfache Außenbordmotoren, mit wenig PS. Damit kann man kaum lenken und bei schlechtem Wetter haben die Menschen damit keine Chance.

Wie sieht der Alltag für die Geflüchteten und die Crew aus? Wie ist die Stimmung?

Neben den Mahlzeiten und Briefings gibt es wenig was wir mit den Geflüchteten an Bord machen können. Die Kinder laufen viel übers Schiff und Spielen. Viele unserer Gäste schlafen noch sehr viel und sind erschöpft.

Ansonsten sind Jonas und ich viel an Deck und versuchen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und sie zu beschäftigen. Das ist extrem wichtig für die Stimmung an Bord.

Daher haben wir heute zB gesungen und morgen verteilen wir Kartenspiele. Wir müssen uns manche "Highlights" auch noch für spätere Zeitpunkte aufsparen.

Die Crew ist mit den Koch-, Putz- und Wachschichten ziemlich beschäftigt, zumal immer wieder verschiedene Dinge dazwischen kommen, um die wir uns kümmern müssen.

Die Stimmung ist gut im Moment, die Leute sind sehr dankbar. Das kann aber schnell kippen und wir geben unser Bestes, dass das nicht passiert. Dafür ist viel Austausch wichtig. Bisher strahlen wir viel Vertrauen und Zuversicht aus, was für die Menschen extrem wichtig ist.

Dadurch entstehen viele sehr schöne Momente. Bei den Briefings wird viel geklatscht.


Kommentare

  1. Kann es sein, dass diese Gäste sich nur deswegen auf ihren gefährlichen und illegalen Weg gemacht haben, weil eine realistische Chance besteht, dass sie auch am Ziel ankommen? Das heißt im Umkehrschluss leider, dass ihr ungewollt das Schlepperunwesen unterstützt! Meinst du nicht, wenn morgen 10000 Alan Kurdi- Schiffe zur Rettung unterwegs wären, dann wären übermorgen 2 Millionen arme Afrikaner auf dem Weg nach Europa und bald würde jede arme afrikanische Familie eines ihrer 8 oder 10 Kinder zum Broterwerb nach Europa schicken, leider die meisten ohne irgendeine Ausbildung..... . Trotzdem wünsche ich euch viel Erfolg!

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    1. Nein. Die Theorie der Pullfaktoren ist wissenschaftlich widerlegt und somit Pullshit.
      Menschen verlassen ihre Heimat nicht, weil Rettungsschiffe sie evtl. retten sondern weil sie keinen Ausweg sehen.
      Wenn du dir mal die Geschichten der Menschen anhörst, dann wird das auch mehr als klar.
      Übrigens ist Afrika ein 30.370.000 km² großer Kontinent und seine Länder so vielzählig wie vielfältig. Da kann man nicht einfach von "den armen afrikanischen Familien" sprechen, die mal eben so jemanden nach Europa schicken. Das ist ersten falsch und zweitens ist es rassistisch (ob gewollt oder nicht).

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  2. Tja, das war wohl nix. Die Italiener haben diesmal alle Anfragen zur Aufnahme der Migranten abblitzen lassen. Es war keine gute Idee, mit einem falsch klassifizierten Schiff trotz aller Warnungen noch einmal aufzulaufen..
    Und jetzt warten wir mal ab, wie die Franzosen reagieren. Macron verfolgt bezüglich der Migration eine recht konsequente Linie, und die französische Küstenwache ist auch eher rüde.

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    1. 1. Ist es nie ein Fehler, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

      2. Eigentlich reicht 1. schon aus.

      3. Siehe neuester Bericht.
      Wir haben endlich eine Lösung. Dass wir uns auf den Weg nach Marseille gemacht haben, liegt nicht daran, dass wir da Lust zu hatten, sondern weil kein Staat Verantwortung übernommen hat.

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  3. Schämt Euch(Vorkommentatoren)! Wenn ihr gelesen habt, müsstet ihr wissen, dass die Flüchtlinge ohne Kontakte waren, die fahren aus lauter Verzweiflung los. Nicht, weil sie Lust drauf haben. Nicht Das Verhalten der Crew ist zu kritisieren, sondern das der Regierungen. Liebe Crew, ich bin stolz auf Euch!

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    1. Die Flüchtlinge sind über ihre Handys bestens über alle Routen und Gefahren informiert! Dass sie sich trotzdem auf den Weg machen, liegt an der Hoffnung durchzukommen und leider an der großen Not in manchen Regionen. Schuld an dieser Not sind indirekt auch wir über unser globales Wirtschaftssystem und direkt die korrupten, unfähigen afrikanischen Regierungen!!

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    2. NGOs als pullfaktoren sind nach den neuesten Studien auch wissenschaftlich wiederlegt. Klar mache haben ein Satellitenteleofn und setzen auch Notrufe ab, diese erreichen dann auch die Libysche Küstenwache die die gesunden zurück nach Libyen bringt... aber diese Mär von den Pullfaktoren wird noch auf ewige Zeiten durch die Netze Geistern....

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